Selbstbewusstsein – der kritische Blick nach innen

Marie wird auf dem Schulhof geärgert. Zu Hause weint sie und sucht Trost bei ihrer Mutter. Diese hört zu, muntert Marie auf und sagt schließlich:
„Marie, du darfst ruhig selbstbewusster auftreten. Sag den anderen Kindern, dass sie aufhören sollen!“

Marie nickt tapfer und nimmt sich fest vor, das nächste Mal mutiger zu reagieren. Doch am folgenden Tag passiert es wieder. Sie wird gehänselt, fühlt sich hilflos und fängt erneut an zu weinen.

Was ist hier passiert? Warum kann Marie sich nicht verteidigen, obwohl sie sich so fest vorgenommen hatte, „selbstbewusst“ zu sein?

Marie steht stellvertretend für viele Kinder in diesem Alter. Sie spürt sehr genau: „Das tut mir nicht gut, das verletzt mich.“ Doch sie kann nicht genau benennen, warum, geschweige denn was sie in dem Moment eigentlich braucht.

Der gut gemeinte Rat: „Sei selbstbewusster!“, greift zu kurz. Denn echtes Selbstbewusstsein entsteht nicht einfach durch einen festen Vorsatz, sondern durch die Fähigkeit, sich selbst zu verstehen.

Selbstbewusstsein beginnt innen, nicht außen

Um sich klar und stark zu positionieren, braucht ein Mensch Zugang zu seinem inneren Erleben. Das bedeutet:

  1. Eigene Gefühle wahrnehmen.     „Ich verhalte oder fühle mich anders als sonst.“
  1. Diese sicher einordnen können.       „Ich bin wütend, ärgerlich, verwirrt, abgelenkt, überschwänglich.“
  2. Die zu Grunde liegenden Bedürfnisse erkennen.     „Ich brauche Sicherheit, Abstand, Schlaf, Bewegung, Ruhe.“

Diese Fähigkeit nennt man Introspektive, also den Blick nach innen. Sie entwickelt sich mit der Zeit und braucht Übung, Reflexion und Begleitung. Kinder, vor allem in jungen Jahren, sind damit oft überfordert.

Selbst einfache körperliche Bedürfnisse, wie Hunger, Müdigkeit oder Bewegungsdrang werden nicht immer erkannt. Häufig überlagern Emotionen diese Signale, was zu innerer Verwirrung führt. Ein Kind wird wütend oder traurig, obwohl es in Wirklichkeit einfach hungrig oder erschöpft ist.

Der innere Kompass: Gefühle und Bedürfnisse erkennen

Die Wurzel gesunder Persönlichkeitsentwicklung ist der innere Kompass:
Wenn Kinder lernen, ihre Gefühle zu spüren und diese mit konkreten Bedürfnissen zu verknüpfen wie zum Beispiel nach Ruhe, Sicherheit, Zugehörigkeit, Bewegung oder Essen, entwickeln sie ein stabiles Selbstbewusstsein.

Marie schöpft neue Kraft, sobald sie versteht:
„Ich fühle mich traurig, weil ich nicht mitspielen darf und mich ausgeschlossen fühle. Ich wünsche mir, dazuzugehören und freundlich behandelt zu werden.“

Sie erkennt: Ich mache nichts falsch. Ihre Gefühle sind nachvollziehbar und sie weiß jetzt auch genau, warum sie traurig ist und kann das in Worte fassen. Selbstzweifel werden zu Selbstbewusstsein und dann auch zu Selbstwertgefühl, nämlich in dem Moment, wenn Marie beschließt, dass sie sich so nicht behandeln lässt.

Mit dieser Stärke kann sich Marie nun viel gelassener auf ihre Schulkameraden zubewegen. Beim nächsten Streit kann sie ruhig sagen:
„Stopp. Ich möchte mitmachen. Es ist nicht okay, wenn ihr mich immer außen vor lasst.“
Oder sie dreht sich einfach um und geht, ohne sich dabei schlecht zu fühlen, ohne es auf sich zu beziehen, wenn andere Kinder sich unfreundlich verhalten.

Sie beendet in dem Moment den ständigen Kampf mit den anderen Kindern, den sie bisher immer verloren hat, und beginnt, ihre eigenen Grenzen und Bedürfnisse bewusst zu vertreten. Das ist die eigentliche Bedeutung von Selbstbewusstsein.

Kinder lernen, ihre Gefühle wahrzunehmen, sich zu verstehen und für ihre Bedürfnisse einzustehen, wachsen sie zu selbstbewussten Persönlichkeiten heran, nicht durch Konflikt, sondern durch Klarheit.

Niemand wird perfekt geboren. Übung ist normal!

Es bedarf viel Selbstreflexion und Selbstbeobachtung, um Selbstbewusstsein zu entwickeln. Und es erfordert auch, dass der Mensch sein Verhalten und das Verhalten von anderen in einen allgemeingültigen Rahmenbezug setzen kann. Was darf ich, was darf mein Gegenüber? Was ist noch in Ordnung, was geht zu weit? Erfolgt das nicht, merkt man zwar sein Gefühl, kann aber nicht gut in Worte fassen, warum man so fühlt. Deshalb ist es wichtig, geduldig mit sich selbst zu sein und immer wieder zu üben. Schritt für Schritt lernt man, sich selbst besser zu verstehen und sicherer aufzutreten.

Wie können Erwachsene Kinder dabei unterstützen?

  • Gefühle ernst nehmen und benennen helfen.
  • Bedürfnisse gemeinsam herausfinden: „Was brauchst du gerade?“
  • Körperliche Signale achten: Hunger, Unruhe, Müdigkeit.
  • Raum für Bewegung, Entspannung und Selbstwahrnehmung schaffen.
  • Vorleben, wie man sich selbst reflektiert und ausdrückt.
  • Geduldig bleiben, denn Entwicklung braucht Zeit.

Einfache Übungen für Kinder und Eltern

Abends vor dem Schlafengehen könnt ihr gemeinsam erzählen, was heute Schönes passiert ist und auch was euch vielleicht traurig, wütend oder ängstlich gemacht hat. So lernen Kinder, dass alle Gefühle dazugehören und es okay ist, auch negative Gefühle zuzulassen. Eine weitere Übung ist zusammen kleine Geschichten zu erfinden oder darüber zu sprechen, was eine Figur fühlt und braucht. Das fördert Empathie und das Verständnis für sich selbst und andere.

Fehler als Lernchance: Selbstbewusstsein wächst Schritt für Schritt

Fehler sind keine Rückschläge, sondern Chancen zum Wachsen. Gerade beim Erlernen von Selbstbewusstsein ist es ganz normal, dass nicht alles sofort klappt. Wenn es einem Kind noch nicht gelingt, sich abzugrenzen oder im entscheidenden Moment wieder in alte Muster fällt, ist das kein Scheitern, sondern eine wichtige Erfahrung. Jeder Versuch, jede Unsicherheit, jedes „nicht perfekt“ ist ein Schritt auf dem Weg zur inneren Stärke. Es lohnt sich, dranzubleiben, geduldig zu sein und liebevoll auf sich selbst zu schauen: „Was kann ich daraus lernen?“, das ist die Haltung, die echte Entwicklung ermöglicht.